...und dann kam Corona Kommunikation und Beteiligung erhalten

Hilfe zur Erziehung unter Pandemie-Bedingungen

EIn Junge läuft an einem See vorbei, trägt einen Rucksack und eine Maske
Thomas Park on Unsplash

2. Kamingespräch des Netzwerks QE-WiPrax des weiterbildenden berufsqualifizierenden Masterstudiengangs Kinderschutz - „Dialogische Qualitätsentwicklung in den Frühen Hilfen und im Kinderschutz“

Am 30.11.2020 veranstaltete das Netzwerk QE-WiPrax - Qualitätsentwicklung in Wissenschaft und Praxis, das Kooperationsnetzwerk des berufsbegleitenden weiterbildenden Masterstudiengangs Kinderschutz – „Dialogische Qualitätsentwicklung in den Frühen Hilfen und im Kinderschutz“, zum zweiten Mal in diesem Jahr ein virtuelles „Kamingespräch“. Online, via Zoom, wurde ein Raum zum Dialog geboten – zum Austauschen und zum gemeinsamen Nachdenken darüber, wie sozialpädagogische Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Familien unter den Umständen der Corona-Pandemie und insbesondere des Lockdowns umgesetzt wird. Und wie es den Fachkräften gelingen kann, trotz der Einschränkungen, weiterhin gute fachliche Kinder- und Jugendhilfe zu leisten und die aktuellen Herausforderungen professionell zu bewältigen.

Während sich das erste Kamingespräch im Sommer 2020 allgemein dem Thema „Kinderschutz in Zeiten von Kontaktbeschränkungen“ widmete (vgl. hierzu auch Rätz & Druba 2020), lag der Fokus des zweiten Kamingesprächs am 30.11.2020 konkreter auf dem Bereich der Hilfe zur Erziehung (HzE/Erziehungshilfen, gemäß § 27 SGB VIII i.V.m. §§ 28-35 SGB VIII).

Hilfe zur Erziehung

Da der Erfolg von Erziehungshilfen und damit auch der nachhaltige Schutz von Kindern elementar davon abhängt, ob es den Fachkräften gelingt, in Kontakt mit den Kindern, Jugendlichen und Familien zu kommen, ist die Umsetzung von professioneller Sozialer Arbeit durch die Infektionsschutzvorgaben wesentlich erschwert.

So sinnvoll und wichtig die Kontaktbeschränkungen zur Eindämmung der Pandemie auch sind, stellen sich drängende Fragen:

Wenn Kontakt so weit wie möglich gemieden werden soll, rücken die präventive Arbeit und das Schaffen von guten Bedingungen für Kinder, Jugendliche und Familien dann in den Hintergrund? Fördern die aktuellen Umstände die Tendenz innerhalb der Kinder- und Jugendhilfe, dass der Kinderschutzauftrag darauf reduziert wird, dort einzugreifen, wo das Wohl eines Kindes bzw. mehrerer Kinder bereits akut gefährdet zu sein scheint?

Was macht all das mit den jungen Menschen und Eltern, wie geht es ihnen in dieser Zeit? Wie geht es insbesondere denjenigen, die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Anspruch nehmen – die insofern schon vor der Pandemie mit Überforderung und/oder kritischen Lebensereignissen etc. konfrontiert sowie starker sozialer Kontrolle ausgesetzt waren?

Welche Herausforderungen stellen sich und welche Ideen gibt es, um professionelle sozialpädagogische Standards (in der Hilfeplanung, Fallführung und Hilfeerbringung) trotz der massiven Kontaktbeschränkungen und Infektionsrisiken aufrecht zu erhalten?

Was geht in diesen Zeiten eigentlich vor sich, in den Wohngruppen, in den Kriseneinrichtungen, im Bereich der ambulanten Hilfen usw.?

Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit zwischen Jugendamt, freien Trägern und den jungen Menschen und Familien - wie kann diese unter Pandemie-Bedingungen gut gestaltet werden?

Was ist nun also zu tun?!

Zu Beginn des Kamingesprächs wurden zunächst Ergebnisse aktueller wissenschaftlicher Studien vorgestellt, die bereits Antworten auf einige dieser Fragen liefern:

Im Rahmen der Studie „Kindsein in Zeiten von Corona“ des Deutschen Jugendinstituts (DJI) zeigte sich, dass laut der befragten Eltern 32% der Kinder Schwierigkeiten haben, mit den Pandemie-Bedingungen zurecht zu kommen (vgl. Langmeyer et al. 2020, S. 26). Das Klima in den meisten Familien wird mitunter als konflikthaft und chaotisch bewertet, was sich in Haushalten mit mehreren Kindern noch verstärkt. Weitere Belastungsfaktoren, wie finanzielle Sorgen, erschweren die Bewältigung der Pandemie-Situation erheblich (vgl. ebd.). Zu beachten ist, dass an dieser Studie hauptsächlich Eltern mit hohem formalem Bildungsabschluss teilnahmen und Eltern mit niedrigem bis mittlerem Bildungsabschluss insofern unterrepräsentiert sind (vgl. ebd., S. 25). Es ist anzunehmen, dass sich die Situation in Familien, die eben mit weiteren Belastungsfaktoren, wie finanziellen Sorgen, konfrontiert sind, noch gravierender darstellt.

In den ersten Ergebnissen der bundesweiten Studie JuCo (Erfahrungen und Perspektiven von jungen Menschen während der Corona-Pandemie) der Universität Hildesheim[1] wurde deutlich, dass die aktuellen Bedingungen bei jungen Menschen Gefühle wie Einsamkeit, Verunsicherung und Überforderung verstärken (vgl. Andresen et al. 2020, S. 16). Dies selbst dann, wenn die jungen Menschen eigentlich auf gute soziale Beziehungen zurückgreifen können und auch trotzdem sie durchaus vertraut mit digitalen Kontaktwegen sind (vgl. ebd.). Zudem sehen sich Jugendliche und junge Erwachsene unter der Pandemie auf ihre Rolle als Schüler_innen, Auszubildende bzw. Studierende reduziert. Junge Menschen, die auf Förderschulen gehen und/oder eine Beeinträchtigung haben und für die Homeschooling zum Teil gar nicht umsetzbar ist, geraten stark aus dem Blick (vgl. ebd.). Allgemein wird in der Studie deutlich, dass Jugendliche und junge Erwachsene sich während der Corona-Pandemie nicht wahrgenommen und nicht gehört fühlen, was ihre Interessen, Sorgen und Gestaltungsideen betrifft (vgl. ebd.)

Die aktuellen Bedingungen verstärken bei jungen Menschen Gefühle wie Einsamkeit, Verunsicherung und Überforderung

Die Studie „Kinder- und Jugendhilfe in Zeiten der Corona-Pandemie“ (Jugendhilfeb@rometer) des DJI, für welche bundesweit insgesamt 371 Jugendämter an einer Online-Befragung teilnahmen, kann zwar nur zeigen, wie sich die Situation aus Sicht der Jugendämter (in der Befragung hauptsächlich vertreten durch Leitungspersonen) darstellt, ist aber nichtsdestotrotz aufschlussreich:

Zum Beispiel in Hinblick darauf, inwieweit in Zeiten des Lockdowns weiterhin Hilfebedarfe von Familien erkannt werden konnten/können.

Fest steht zunächst, dass es in den meisten Jugendämtern keine Zunahme an Kinderschutzmeldungen gab (vgl. Mairhofer et al. 2020, S. 5). Allerdings muss auch beachtet werden, dass während des Lockdowns die bewährten Formen, wie Jugendämter auf Hilfebedarfe von Familien hingewiesen werden, nur noch sehr eingeschränkt wirksam waren bzw. sind: Familien können nicht mehr einfach ins Jugendamt gehen, die Erreichbarkeit der Sozialarbeitenden im Jugendamt ist insofern sehr hochschwellig geworden. Schulen und Kitas sind vielfach geschlossen, sodass die dort arbeitenden Pädagog_innen den täglichen Blick auf die Kinder und deren Wohl verlieren. Das Gesundheitswesen – seien es Kinderärzt_innen oder der KJGD – ist nur noch erschwert zugänglich. Offene Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, wie Familienzentren und Jugendclubs, sind hauptsächlich geschlossen (vgl. ebd., S. 57).

Viele Jugendamtsmitarbeitende äußern daher die Sorge, dass sie die Lage und die Bedarfe von jungen Menschen und Familien unter diesen Bedingungen nicht ausreichend erkennen und einschätzen können (vgl. ebd., S. 5; 35; 57).

Festzuhalten ist an dieser Stelle jedoch auch, dass bis dato keine wissenschaftlichen Erkenntnisse darüber vorliegen, ob es unter den Bedingungen der Pandemie tatsächlich zu mehr Gewalt in Familien gekommen ist (vgl. Jentsch & Schnock 2020).

Der Fokus der Jugendämter lag während des Lockdowns auf akutem Jugendschutz

In jedem Fall haben alle in der DJI-Studie (Jugendhilfeb@rometer) befragten Jugendämter angegeben, trotz der Pandemie-Situation weiterhin Aufgaben im Kontext von akutem Kinderschutz wahrgenommen zu haben – mehr noch, der Fokus der Jugendämter lag während des Lockdowns klar auf diesem Bereich ihrer Zuständigkeit (vgl. Mairhofer et al. 2020, S. 5).

Ob der Umfang der Schutzmaßnahmen im Allgemeinen ausreichend war, bleibt unklar; fest steht nur, dass akute Kindeswohlgefährdungsmeldungen weiterhin bearbeitet und hierfür Hilfen geplant und eingesetzt wurden (vgl. ebd., S. 68).

99 % der befragten Jugendämter führten auch während des Lockdowns weiterhin Inobhutnahmen durch (vgl. ebd., S. 5). Keine Aussage gibt es bislang darüber, ob es zu mehr oder zu weniger Inobhutnahmen kam, als unter gewohnten Umständen (vgl. ebd., S. 24). 98% der Jugendämter gaben an, weiterhin Hausbesuche zur Gefährdungseinschätzung gemacht zu haben (vgl. ebd., S. 5).

Während des Lockdowns fand direkter und persönlicher Kontakt, der wie oben erwähnt so essentiell für erfolgreiche Soziale Arbeit ist, bei mindestens 1/3 der befragten Jugendämter nur noch statt, wenn es akute Sorgen, um das Wohl eines Kindes bzw. mehrerer Kinder gab (vgl. ebd., S. 49; 53). Es wird deutlich, dass sich Jugendämter unter den Pandemie-Bedingungen hauptsächlich nur noch schwerwiegenden Problemlagen zuwenden und dort aktiv werden. Aufgaben und Hilfen, bei denen es nicht um akute Kindeswohlgefährdung geht, werden tendenziell eingeschränkt und aufgeschoben (vgl. ebd., S. 27). Hierdurch werden jedoch die Möglichkeiten und Rechte der jungen Menschen und Familien auf Information, Beratung, Unterstützung und Beteiligung stark eingeschränkt (vgl. ebd., S. 53).

Es wird eine Struktur sichtbar: Denn dort, wo der Kontakt zu den jungen Menschen und Familien trotz Pandemie gehalten wurde, wurde auch weiterhin das ganze Spektrum an Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe eingesetzt – daher auch präventive Leistungen, Hilfe für junge Volljährige usw. Da jedoch, wo kaum Kontakt gehalten wurde, wurden im Wesentlichen nur noch stationäre Hilfen eingesetzt (vgl. ebd., S. 32; 49), daher scheinbar in der Regel nur gehandelt, wenn die Lage der jungen Menschen/Familien bereits so dramatisch war, dass eine Fremdunterbringung notwendig wurde.

Unter den Pandemie-Bedingungen wurde die Form und Priorisierung der Hilfeplanung verstärkt zur Einzelfallentscheidung und die Fallführung variierte stark, je nach zuständiger Fachkraft (vgl. ebd., S. 20).

Diese Tendenzen, Herausforderungen und Handlungsmuster in der Kinder- und Jugendhilfe sind natürlich nicht neu. Bemerkenswert ist jedoch, dass sie sich während der Corona-Krise deutlich zuspitzten (vgl. ebd., S. 32).

Und wie gestaltete sich die Erbringung der Erziehungshilfen unter Pandemie-Bedingungen?

Die stationären Hilfen standen vor enormen Herausforderungen. In einem Bereich, in welchem zwischenmenschlicher Kontakt niemals vollständig vermieden werden kann und sollte, musste ausgelotet werden, was an Sicherheitsmaßnahmen gegenüber den zu betreuenden Menschen vertretbar war und es mussten Wege gefunden werden, um diese Maßnahmen umzusetzen. Teilweise wurde die Belegung reduziert, Corona-Tests mussten organisiert werden, Möglichkeiten der Quarantäne-Unterbringung mussten aus dem Boden gestampft, personelle Engpässe überstanden werden usw. (vgl. ebd., S. 23f).

Bei der Umsetzung von Besuchskontakten und Umgangsrecht kam es vermehrt zu Konflikten. Teilweise wurden Hilfen auch vorzeitig aufgrund der Pandemie-Bedingungen beendet – wobei hier unklar bleibt, ob die Hilfebeendigungen fachlich begründet waren oder aus organisatorischen Nöten heraus entschieden wurden (vgl. ebd., S. 25; 45).

Bislang liegt noch keine Studie über die konkreten Herausforderungen, Bewältigungsstrategien und Handlungspraxen von stationären Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe unter den Bedingungen der Pandemie vor (vgl. ebd., S. 24).

"Mit Schutzausrüstung und Abstandhalten gingen die Helfer_innen weiterhin in die Wohnungen der Familien, nutzen Videochats, trafen sich im Freien, führten Beratungen am offenen Fenster durch oder wurden anderweitig kreativ aktiv."


Zum Bereich der ambulanten Hilfen zeigen die Studienergebnisse, dass Jugendämter während des Lockdowns keine Schwierigkeiten hatten, Anbieter_innen für ambulante Erziehungshilfen zu finden (vgl. ebd., S. 27). Dies ist bemerkenswert, da auch die Fachkräfte dieses Bereiches mit den hohen Hürden und dem Aufwand des Infektionsschutzes konfrontiert waren, mit Personalausfällen zu kämpfen hatten usw. (vgl. ebd.).

Ca. ¾ der ambulanten Fachkräfte in den befragten Jugendamtsbezirken hielten weiterhin direkten und persönlichen Kontakt zu den durch sie betreuten Familien (vgl. ebd., S. 51). Mit Schutzausrüstung und Abstandhalten gingen die Helfer_innen weiterhin in die Wohnungen der Familien, nutzen Videochats, trafen sich im Freien, führten Beratungen am offenen Fenster durch oder wurden anderweitig kreativ aktiv (vgl. ebd., S. 26).

Der hohe Anteil von 64% der ambulanten Fachkräfte in den befragten Jugendamtsbezirken nutzte bildgestützte digitale Kommunikationswege mit den Familien (vgl. ebd., S. 52).

Besonders deutlich wird in den bisher vorliegenden Studienergebnissen, dass die Beteiligung der jungen Menschen und Familien durch die Jugendämter – die einerseits rechtlich vorgegeben und andererseits Voraussetzung für die Nachhaltigkeit der Hilfsangebote und sozialpädagogischen Interventionen ist – unter den Bedingungen der Pandemie faktisch zu kurz kommt (vgl. ebd., S. 57).

Für die Umsetzung von Beteiligungsstrukturen ist es unumgänglich, dass persönlicher Kontakt zwischen der Fachkraft und dem jungen Mensch/der Familie stattfindet. Insofern gestaltet es sich aktuell problematisch für Jugendämter, die Partizipationsrechte der jungen Menschen/Familien aufrecht zu erhalten. Deutlich wird im Rahmen des DJI-Jugendhilfebarometers auch, dass die Jugendämter diese Problematik durchaus wahrnehmen - und unter Beteiligung mehr verstehen als rein formale Zustimmung (vgl. ebd., S. 57; 69).

Und was ist nun zu tun?

Fest steht, dass die Fachkräfte der stationären Kinder- und Jugendhilfe nicht umhin kommen, angemessene Besuchs- und Umgangsformen für die durch sie betreuten jungen Menschen und deren Familien zu entwickeln (vgl. ebd., S. 45).

Zudem ist klar, dass präventive Angebote und die Gestaltung von guten Bedingungen für junge Menschen und Familien nicht dauerhaft vernachlässigt werden können, sondern wieder in den Vordergrund gerückt werden müssen, wenn soziale Schwierigkeiten nicht langfristig verstärkt werden sollen (vgl. ebd., S. 65).

Auch wenn der direkte, persönliche Kontakt nicht durch digitale Kommunikation ersetzt werden kann, müssen da, wo es möglich und sinnvoll ist, alternative Wege der Kommunikation und Interaktion geschaffen und gegangen werden. Dabei gilt es jedoch, die Verschiebung bzw. Reduktion der zwischenmenschlichen Kommunikation auf mediale Kommunikation nicht blind geschehen zu lassen, sondern aktiv zu reflektieren und z.B. im Rahmen von Qualitätsentwicklung- und Praxisforschungsprojekten zu begleiten (vgl. ebd., S. 69ff).

Und natürlich ist auch für Soziale Arbeit die Basis von professioneller Tätigkeit während der Pandemie die Verfügbarkeit von ausreichender Ausstattung – Schutzmaterial, Zugang zu Schnelltests, entsprechende Räumlichkeiten sowie technische Infrastruktur (vgl. ebd., S. 70).

Es ist mehr als bedenklich, wenn bereits jetzt sehr deutlich wird, dass die Beteiligung von und Kommunikation mit den jungen Menschen und Familien – vor allem Seitens der Jugendämter – während des Lockdowns stark reduziert bis ausgesetzt wurden.

Dass dem so ist, zeigen die oben beschriebenen Forschungsergebnisse und insofern auch die Selbstaussagen der Jugendamtsmitarbeitenden. Und es bestätigt sich auch in den Ergebnissen einer kleineren Studie „Corona und Familien in Hilfen zur Erziehung“, welche im Rahmen des Masterstudiengangs „Praxisforschung in Sozialer Arbeit und Pädagogik“ an der ASH Berlin unter der Leitung von Prof. Dr. Regina Rätz und in Kooperation mit einem Berliner Jugendamt durchgeführt wurde. In dieser Studie wurden narrative Interviews und Fallstudien mit Eltern durchgeführt, die während der Corona-Pandemie Hilfe zur Erziehung in Anspruch nahmen (vgl. Wirth 2021). Die zentrale Fragestellung war: Wie erlebten die Familien aus ihrer Sicht den ersten Lockdown? Auch im ersten sowie im zweiten Kamingespräch des Netzwerks QE-WiPrax benannten die teilnehmenden Fachkräfte aus diversen Arbeitsbereichen deutlich, dass die Beteiligung der jungen Menschen und Familien, insbesondere von Seiten der Sozialarbeiter_innen in den Jugendämtern, während des Lockdowns vermehrt vernachlässigt bis eingestellt wurde.

"Das Recht der jungen Menschen auf Beteiligung und Schutz muss krisenfest sein."


Die Ergebnisse des Praxisforschungsprojekts „Corona und Familien in Hilfen zur Erziehung“ bestätigen, was eigentlich jeder Fachkraft der Sozialen Arbeit klar sein dürfte – dass Familien durch die Reduzierung der Kommunikation und die Vernachlässigung von Beteiligungsstrukturen den Entscheidungen des Hilfesystems ausgeliefert sind und sich diesem gegenüber als abhängig und ohnmächtig erleben.

Aus Sicht der befragten Eltern gefährdet dies die Erfolge von bisherigen Hilfeprozessen und es entsteht Angst vor daraus resultierenden negativen Konsequenzen für die Familien. Diese Angst führt bei den Betroffenen wiederum zu persönlichen und familiären Krisensituationen.

Neben diesem brisanten Thema der Beteiligung von jungen Menschen und Familien im Bereich der Hilfe zur Erziehung in Zeiten der Corona-Pandemie wurden im Rahmen des Kamingesprächs am 30.11.2020 noch weitere wichtige Punkte hervorgehoben:

Zunächst einmal, was Mütter leisten! Es wurde einvernehmlich auf die enorme Leistung von vor allem Müttern in der Krise hingewiesen, denen schließlich (immer noch) an erster Stelle die Aufgabe zukam und zukommt, die überaus herausfordernden Mehrfachbelastungen zu bewältigen (vgl. hierzu auch Richter 2020).

Ein wesentliches Thema war auch die Unsicherheit bei allen Beteiligten - daher bei den Familien ebenso wie bei den Fachkräften. Unsicherheit in Bezug auf die Zukunft und auf Planungsprozesse sowie in Bezug auf Gesundheit und das richtige Maß an Infektionsschutz und guter, fachlicher, persönlicher Zusammenarbeit.

Alle standen mit Beginn der Corona-Pandemie vor der Herausforderung zu lernen mit der neuen Unsicherheit umzugehen und damit zu leben.

Die Fachkräfte waren unmittelbar herausgefordert, weitreichende Entscheidungen zu treffen – z.B. in Hinblick auf die Kontaktgestaltung zu anderen Menschen – ohne dabei auf klare Vorgaben/Strukturen zurückgreifen zu können. Es war oft unklar, was genau erlaubt und vertretbar war und was nicht.

So mussten die Fachkräfte wichtige Entscheidungen vielfach nach eigenem Ermessen treffen und Verantwortung als eigenständige Menschen übernehmen. Um in der Krise professionell handlungsfähig zu bleiben und den Familien weiterhin helfen zu können, mussten Entscheidungen in besonderem Maße autonom getroffen werden, ohne sich auf die Verantwortungsübernahme durch Vorgesetzte/Kolleg_innen/Institutionen stützen zu können.

Auch führte der allgemeine Abbruch der regulären Kommunikationswege nicht nur bei den Eltern zu Sorgen vor negativen persönlichen Konsequenzen und Ohnmachtsgefühlen. Auch den Fachkräften führte er die eigene Abhängigkeit von anderen Institutionen in ihrer Arbeit (z.B. vom Jugendamt, aber auch Jobcenter, Sozialamt usw.) vor Augen.

Zum Schluss sei noch einmal die große Sorge in Hinblick auf die Infragestellung von Beteiligungsstrukturen hervorgehoben: Sicherlich ist die Pandemie mit all ihren Folgen eine enorme Belastung für alle Menschen und mit Sicherheit ist es mehr als herausfordernd für alle Fachkräfte der Sozialen Arbeit, die Abwägung zwischen Infektionsschutz und fachlicher, menschlicher Zusammenarbeit mit den jungen Menschen und Familien angemessen zu treffen. Nichtsdestotrotz bringen es Andresen et al. treffend auf den Punkt: „Das Recht der jungen Menschen auf Beteiligung und Schutz darf nicht ein Schönwetterrecht sein und muss demnach krisenfest sein. Wenn es in der Krise aussetzt, ist es nicht fest genug etabliert“ (Andresen et al. 2020, S. 17).

 

Literatur
Andresen, S.; Lips, A.; Möller, R.; Rusack, T.; Schöer, W.; Thomas, S.; Wilmes, J. (2020): Erfahrungen und Perspektiven von jungen Menschen während der Corona-Pandemie. Erste Ergebnisse der bundesweiten Studie JuCo. Hildesheim: Universität Hildesheim.
Jentsch, B.; Schnock, B. (2020): Kinder im Blick? Kindeswohl in Zeiten von Corona. In: Sozial Extra (5), S. 304-309.
Langmeyer, A.; Guglhör-Rudan, A.; Naab, T.; Urlen, M.; Winkelhofer U. (2020): Kindsein in Zeiten von Corona. Erste Ergebnisse zum veränderten Alltag und zum Wohlbefinden von Kindern. München: Deutsches Jugendinstitut e.V. .
Mairhofer, A.; Peucker, C.; Pluto, L.; van Santen, E.; Seckinger, M. (2020): Kinder- und Jugendhilfe in Zeiten der Corona-Pandemie. DJI- Jugendhilfeb@rometer bei Jugendämtern. München: Deutsches Jugendinstitut e.V. .
Rätz, R.; Druba, L. (2020): Kinderschutz in Zeiten von Kontaktbeschränkungen. Kamingespräch des Kooperationsnetzwerks „QE-WiPrax“ des Masterstudiengangs „Kinderschutz - Dialogische Qualitätsentwicklung in den Frühen Hilfen und im Kinderschutz“. In: aliceonline (Juli 2020), online verfügbar unter: www.alice.ash-berlin.eu/lernen-lehren/news/kinderschutz-in-zeiten-von-kontaktbeschraenkungen, zuletzt geprüft am 22.01.2021.
Richter, M. (2020): (Un-)Sichtbare familiale Realitäten in der Corona-Pandemie. In: Böhmer, Anselm; Engelbracht, Mischa; Hünersdorf, Bettina; Kessl, Fabian; Täubig, Vicki (Hrsg.): Soz Päd Corona. Der sozialpädagogische Blog rund um Corona. Online verfügbar unter: www.sozpaed-corona.de/un-sichtbare-familiale-realitaeten-in-der-corona-pandemie, zuletzt geprüft am 22.01.2021.
Wirth, Robert (2021): ...und dann kam Corona. Wegfall der Strukturen. Wie erlebten Familien, die Hilfen zur Erziehung (HzE) in Anspruch nehmen, die Zeit des Lockdowns?. Online verfügbar unter: https://alice.ash-berlin.eu/forschung/news/wegfall-der-strukturen, zuletzt geprüft am 03.02.2021.


[1] Mittlerweile, seit Dezember 2020, liegen auch die ersten Ergebnisse der Studie „JuCo 2“ der Universität Hildesheim vor