Kommentar |
ohne Gruppe
Thema: Systemisches Denken und Handeln ist in der Therapie-, Erziehungs- und Beratungsszene weit verbreitet. Diese Einschätzung können durch folgende Hinweise belegt werden a) Systemische Therapie ist seit 22. November 2019 Richtlinienverfahren; sie wird seit Juli 2020 als ambulante Leistung für Erwachsene von gesetzlichen Krankenkassen bezahlt. b) Als Hilfe zur Erziehung nach §27.3 SGB VIII ermöglichen Jugendämter insbesondere in Berlin und Brandenburg, (Multiproblm-)Familien eine systemische Therapie bei dafür spezialisierte soziale Trägerorganisationen. c) Mehr oder wissenschaftlicher „systemischer” (Ratgeber-)Literatur wurde in den letzten Jahren publiziert (s.u.). d) Eine Vielzahl von Fortbildungsinstituten (allein in Berlin mindesten 3) sorgt in Deutschland und auch Österreich für systemischen Nachwuchs. Sowohl in der Kindheits- als auch in der Sozialpädagogik hat das systemische Denken seine publizistische Spur hinterlassen. Eine „Systemische Entwicklungsberatung in der frühen Kindheit” (Borke und Eickhorst 2008) liegt genauso vor, wie eine „Systemische Pädagogik ein Leitfaden für Praktiker (sic)” (Mosell 2016). Systemisch kann – wenn wir der Literatur folgen – der Unterricht (Hubrig und Herrmann 2007), die Kita (Ott et al. 2007), die Lernbeziehung (Furman 2020) und auch eine Lerntherapie (Lehmann 2021) gestaltet werden. Ähnliches lässt sich für das Feld der sozialen Arbeit beobachten: Von der bereits erwähnten systemischen Maßnahme als Hilfe zur Erziehung (Conen et al. 2013), zur Arbeit mit Schüler_innen (Just 2017), mit Migrant_innen (Radice von Wogau 2004), mit Tieren (Darga und Dapper 2022), mit Mitarbeiter_innen (Weber 2015) und das Feld der sozialen Arbeit als Ganzes (Ritscher 2007). Arbeitsweise: Im Seminar werden anhand von (anonymisierten) Fällen aus der Familientherapie und Erziehungsberetung vorgestellt, an denen die Seminargruppe diskutieren kann, was eine systemische Herangehensweise verändern kann und worin ihre Grenzen liegen. Dabei werden immer wieder Texte der neueren Forschungsliteratur hinzugezogen. Neben Themen und Arbeitsbeispiele aus der Praxis der Master-Studierenden werden mindestens zwei Schwerpunkte gesetzt: Zum einen das Thema "Elterntrennungen - bzw. Hochkonfliktpaare" - Thema, das immer wieder in der Frühpädagogik und Grundschule aufgeworfen wird, zum anderen die "aufsuchende Familientherapie", ein sozialpädagogischer Ansatz, der insbesondere in den Bundesländern Berlin und Brandenburg Anwendung findet. Sofern dies notwendig oder erwünscht wird, werden die Seminaranbieter_innen eine Einführung in die Wissenschaft familiärer Systeme geben, die sich seit den 1950er Jahren entwickelt hat. Ziel des Seminares: Das Seminar verfolgt das Ziel, die wissenschaftlichen und therapeutischen Ansprüche systemischer Ansätze in der Kindheits- und Sozialpädagogik zu überprüfen. Was wird überhaupt unter „System” verstanden und welche besonderen Perspektiven und Logiken sind mit dem systemischen Ansatz verbunden? Was können diese überhaupt leisten? Worin liegt der Charme des systemischen Denkens und Handelns? Erweitern die systemischen Begriffe (wie Komplexität, Zirkularität, Reframing etc.) wirklich unser Denkvermögen oder tragen sie nur zum Jargon bei, mit Hilfe dessen sich das professionelle Sprechen von der Alltagskommunikation abgrenzen will. Inwieweit sind bestimmte Methoden, die im Umkreis der systemischen Therapieszene angewandt werden, nicht nur wissenschaftlich wenig fundiert, sondern den Klient_innen gar abträglich. Sprich: wo liegen die Grenzen des systemischen Ansatzes? Entspricht denn das, was so manches systemische Buch oder Fortbildungsinstitut behauptet, tatsächlich jenen Konzepten, die in den USA, Italien und Deutschland die Grundlagen des systemischen Denkens legten? Bedingungen für den Erwerb von ECTS-Punkten: Neben der aktiven Teilnahme von mindestens 80% der Semesterwochenstundenzeit soll jede Teilnehmer_in entweder einen Fall ihrer beruflichen Praxis nach den Maßgaben des systemischen Denkens darstellen oder einen Text des neueren Systemforschung der Seminargruppe näher bringen. Weitere Fragen könnten sein: Sind systemische Ansätze wirklich so hilfreich, originell und lösungsorientiert? Oder ist die systemische Perspektive (inzwischen) so normalisiert, dass sie sich in jede Lücke geschmeidig einfügen lässt? Ist oder war sie nicht einst sperrig, eckig, widersprüchlich, unbequem? War sie nicht die Antithese zum Gewöhnlichen, die inzwischen beim Gewöhnlichen angelangt ist? Ist ihr Erfolg gleichsam ihr Untergang? Oder wie ist eine systemische Haltung zu bewahren – ohne sie zu konservieren? Wie sind systemische Ideen auszuweiten und in in die vorhandenen Denkstrukturen einzuschmelzen – ohne sie bis zur Unkenntlichkeit zu deformieren? |
Literatur |
Borke, Jörn; Eickhorst, Andreas (2008): Systemische Entwicklungsberatung in der frühen Kindheit. Stuttgart: UTB. Online-Vorhanden Conen, Marie-Luise; Cecchin, Gianfranco; Klein, Rudolf (2013): Wie kann ich Ihnen helfe, mich wieder los zu werden? Therapie und Beratung mit unmotivierten Klienten und in Zwangskontexten. Achte Auflage 2022. Heidelberg: Carl-Auer. Darga, Charlotte; Dapper, Dorothea (2022): Tierisch systemisch. Lösungs- und Ressourcenorientierung in der tiergestützten Intervention. München: Ernst Reinhardt Verlag. Furman, Ben (2020): Ich schaffs! Spielerisch und praktisch Lösungen mit Kindern finden ; das 15-Schritte-Programm für Eltern, Erzieher und Therapeuten. 8. Auflage. Heidelberg: Carl-Auer. Hubrig, Christa; Herrmann, Peter (2007): Lösungen in der Schule systemisches Denken in Unterricht, Beratung und Schulentwicklung. 2., korrigierte Aufl. Heidelberg: Carl-Auer. Just, Annette (2017): Systemische Schulsozialarbeit. 1. Auflage. Heidelberg: Carl-Auer (Soziale Arbeit). Lehmann, Mike (2021): Systemische Lerntherapie ein integrativer, beziehungs- und ressourcenorientierter Ansatz. Zweite, aktualisierte Auflage. Heidelberg: Carl-Auer. Mosell, Robert (2016): Systemische Pädagogik ein Leitfaden für Praktiker. Weinheim: Beltz. Ott, Brigitte; Käsgen, Rainer; Ott-Hackmann, Harald; Hinrichsen, Sven (2007): Die systemische Kita. Das Konzept und seine Umsetzung. Weimar, Berlin: Das Netz. Radice von Wogau, Janine (Hg.) (2004): Therapie und Beratung von Migranten. Systemisch-interkulturell denken und handeln ; [Praxishandbuch]. 1. Aufl. Weinheim, Basel: Beltz, PVU. Ritscher, Wolf (2007): Soziale Arbeit: systemisch. Ein Konzept und seine Anwendung. 1. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Weber, Alexander (2015): Systemisch Führen im Sozialwesen. Wirksamkeit und Nutzen einer systemischen Haltung bei Führungskräften im Sozialwesen. 1. Aufl. Saarbrücken: AV Akademikerverlag. |