Kommentar |
Im Vertiefungsgebiet Kinder- und Jugendhilfe werden aktuelle Fachdebatten aufgegriffen, anhand von Literatur vertieft erarbeitet und in ihrer Bedeutung für die Praxis diskutiert.
In diesem Kurs wird der Diskurs rund um die Wirkungsorientierte Jugendhilfe im Mittelpunkt stehen. Dieser hoch konflikthafte, umstrittene Diskurs ist eines der aktuell bestimmendsten Themen der Jugendhilfediskussion. Praktiker/innen der Kinder- und Jugendhilfe sehen sich in ungewohnter Weise vehementen Nachfragen hinsichtlich ihrer Wirkungen, der Effektivität und Effizienz ihrer Arbeit ausgesetzt. Sind diese Fragen berechtigt? Sind sie so berechtigt, oder müssten sie anders formuliert werden? Wie kann eine angemessene fachliche Antwort aussehen? Um hierzu Stellung nehmen zu können, werden anhand von Texten unterschiedliche Positionen und Argumentationen nachvollzogen und diskutiert. Schwerpunkte sind z.B. unterschiedliche Verständnisse von Wirkung in der Jugendhilfe, das sog. Technologiedefizit der Sozialen Arbeit, ethische Aspekte der Wirkungsdebatte und die Auswirkungen des Wirkungsdiskurses auf die Partizipationsrechte von Betroffenen in der Jugendhilfe.
Eine Anschlussfrage an die Wirksamkeitsdebatte ist, welches eine angemessene Rechenschaftspflicht der Jugendhilfe wäre und wie sie erfüllt werden kann. Wir haben die Möglichkeit, zu diesem Thema mit Kiek in e.V. Berlin zu kooperieren. Kiek in e.V. ist ein im Marzahner Brennpunktgebiet NordWest angesiedelter Träger der Gemeinwesenarbeit, der auch Angebote der Kinder- und Jugendhilfe vorhält. Im Herbst 2008 startet dort ein neues, durch Aktion Mensch gefördertes Projekt Der erste Schritt Prävention vor Eskalation. Familien in konflikthaften Lebenssituationen soll ein niedrigschwelliges, amtsunabhängiges, aktiv auf die Betroffenen zugehendes (z.B. direkte Ansprache auf einem Fest oder bei einem Spielnachmittag) Unterstützungsangebot unterbreitet werden, das von Fachkräften realisiert wird, die bei Hilferufen unkompliziert und schnell vor Ort (z.B. Hausbesuche) gehen und die Betroffenen sowohl beraten als auch begleiten (z.B. zu Ämtern und Institutionen) sowie ihnen Möglichkeiten aufzeigen ihre familiäre Situation zu verbessern. Um der Entstehung von Konflikten in Familien vorzubeugen werden insbesondere für die Zielgruppe der jungen allein erziehenden Mütter mit Kleinkindern präventive Gruppenangebote zur Stärkung von Alltags- und Erziehungskompetenzen und zur Information über spezifische Themen wie den Umgang mit AD(H)S-Kindern oder die Vorsorgeuntersuchungen angeboten. Die Erfahrungen des Projekts sollen ausgewertet und die Möglichkeit der Übertragbarkeit in Regelangebote geprüft werden. Hierfür ist es notwendig, ein sinnvolles Dokumentationswesen zu entwickeln.
Wir werden in einem praktischen Teil gemeinsam überlegen, wie die projektinterne Dokumentation aufgebaut sein kann, was erfasst werden sollte, wie dies günstig erfolgen kann und entsprechende Dokumentvorlagen erarbeiten. Da der Kurs über zwei Semester geht ist es möglich, eine Testphase der Dokumente im Kiek in e.V. Berlin durchzuführen und ggf. gemeinsam eine Überarbeitung der Dokumente vorzunehmen.
Zum Hintergrund der Theoriedebatte
Seit Ende den 90er Jahren hat eine so genannte Ökonomisierung der Sozialen Arbeit stattgefunden. Die Einführung betriebswirtschaftlicher Sprach- und Denkweisen, die Anforderung an die Soziale Arbeit, ihr Handeln, ihre Kosten und ihre Wirkungen darzulegen und sich in ihren Strukturen an kapitalwirtschaftlichen Unternehmen zu orientieren, war von Beginn an ein zweischneidiges Schwert. Es gab fachliche Herausforderungen und Weiterentwicklungen in den Bereichen Organisationsentwicklung, Qualitätsentwicklung und Evaluation, die jedoch schon bald in den Rahmen von Kostensenkungs- und Kostenvermeidungsanforderungen gestellt wurden. Vor allem aber war die Passung dieser Konzepte für die Soziale Arbeit von Anfang an fachlich umstritten. Kann man Angebote der Jugendhilfe, so genannte Beziehungsarbeit, in Produktkataloge pressen? Kann man Wirkungen Sozialer Arbeit bestimmen und messen? Was verstehen wir unter Wirkung, kann sie der zentrale Maßstab zu Legitimation von Jugendhilfe sein, und welche Folgen hat dies für die Betroffenen?
2005 erhielt diese Debatte eine neue Brisanz: Die schwarz-rote Koalition verankerte in ihrem Koalitionsvertrag die Forderung nach einer Wirkungsorientierten Jugendhilfe. Jugendhilfe sollte sich auch unter Effizienzgesichtspunkten entsprechend weiterqualifizieren; dringend muss die Lücke im Bereich der Jugendhilfe-Wirkungsforschung geschlossen werden; Jugendhilfe muss ihre Erfolge auch mit harten Fakten beweiskräftiger machen. (S.108) Sie griff damit in ungewohnter Weise in einen wissenschaftlichen Streit ein, und obwohl diese Forderung in der Fachwelt hart umstritten ist, wird ihr politisch seit 2006 durch ein umfangreiches Bundesmodellprogramm Wirkungsorientierte Jugendhilfe Nachdruck verliehen.
Es wird ein Textreader zur Verfügung gestellt. Ich freue mich auf interessierte, neugierige Studierende mit Lust auf das Durchdringen eines komplexen und brisanten Diskurses, auf die dafür notwendige Textarbeit und auf kontroverse Diskussionen. |