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10. Zusammenfassung und Ausblick


Alcoholics Anonymous ist während der dreißiger Jahre aus der Oxford-Bewegung[ die übrigens, inzwischen unter dem Namen "Moral Rearmament" (Moralische Wiederbewaffnung), nach wie vor weltweit aktiv ist], einer religiös fundamentalistischen Sekte, hervorgegangen und hat auch nach der Abspaltung viel von deren Prinzipien und Praktiken beibehalten. Die Mitgliederzahlen blieben anfänglich gering, begannen jedoch nach dem 2. Weltkrieg, ausgelöst durch eine Welle von Presseveröffentlichungen und zunehmende Unterstützung von Medizinern, sprunghaft anzusteigen, ein Trend der sich bis heute fortsetzte.

A.A. betrachtet Alkoholismus als unheilbare, progressive und tödliche Krankheit, die sich körperlich, geistig und spirituell manifestiert. Die Krankheit kann jedoch durch völlige Abstinenz von allen bewußtseinsverändernden Substanzen zum Stillstand gebracht werden. Dem Alkoholiker wird ein spezifisches Set von Persönlichkeitsmerkmalen, das auch vor dem offenen Ausbruch der Krankheit vorhanden ist zugeschrieben.

Angesichts der Merkmale der Krankheit vertritt A.A. die Ansicht, daß Alkoholismus weitgehend menschlichen Einflüssen entzogen ist und nur eine "Höhere Macht" Hilfe bringen kann. Deshalb wird ein Programm vorgeschlagen, das in 12 Schritten, die zunehmende moralische Vervollkommnung, Demut und Gottesvertrauen zum Inhalt haben, ein spirituelles Erwachen bewirken soll. Solange diese besondere spirituelle Verfassung anhält kann der Alkoholiker mit Gottes Hilfe nüchtern bleiben.

Im Laufe der Zeit hat Alcoholics Anonymous zunehmend Einfluß auf die den Alkoholismus betreffende Gesetzgebung, Forschung, Medizin und Behandlung gewonnen. Das Alkoholismusbild von A.A. hat sich weitgehend durchgesetzt. Inzwischen bauen in den U.S.A. fast alle Behandlungsprogramme auf der Philosophie von A.A. auf und beschäftigen mehrheitlich A.A.-Mitglieder als Therapeuten.

Alcoholics Anonymous hat vieles mit religiösen oder politischen Sekten gemein. Durch verschiedene Mechanismen, unter anderem auch die der "Gehirnwäsche", entwickeln die Mitglieder eine starke persönliche Verpflichtung gegenüber A.A. und dessen Weltbild. Da dieses Weltbild Regeln für alle Lebensbereiche enthält bietet es die Sicherheit einer wohlstrukturierten Welt. Die starke Verpflichtung gegenüber einer Organisation und einer Ideologie, die jedoch mit fortgesetztem Alkoholgenuß inkompatibel sind, dürfte das Schlüsselelement für die Abstinenz von A.A.-Mitgliedern sein. Darüber hinaus bietet Alcoholics Anonymous seinen Mitgliedern auf sozialer Ebene eine Revision des Labels "Alkoholiker".

Das Modell von Alkoholismus als Krankheit hatte sozialpolitisch positive Impulse gegeben. Als wissenschaftliches Paradigma ist seine Brauchbarkeit jedoch fragwürdig, da es sich in erheblichem Widerspruch zu empirischen Erkenntnissen befindet.

Die wissenschaftliche Auswertung von Alkoholismus-Behandlungsprogrammen ist grundsätzlich mit erheblichen Schwierigkeiten belastet. Im Falle von Alcoholics Anonymous kommen noch einige besondere Schwierigkeiten dazu, die in der Struktur der Organisation begründet sind.

Es liegen relativ wenige empirische Arbeiten über die Effizienz von A.A. vor. Diese sind wegen ihrer unterschiedlichen Herangehensweise untereinander wenig vergleichbar und kommen zu widersprüchlichen Ergebnissen. Es scheint jedoch, daß A.A. zwar nicht weniger erfolgreich ist als andere Therapieformen, jedoch am wenigsten Akzeptanz bei den Betroffenen findet, so daß viele aus der Gruppe bald wieder herausfallen.

Unregelmäßige A.A.-Besucher haben weniger Erfolg als Problemtrinker, die A.A. überhaupt nicht besuchen. Offensichtlich werden die Alkoholprobleme einiger Menschen durch A.A. nicht gebessert oder gar verschärft. Die Ideologie von Alcoholics Anonymous enthält einige Elemente, die für Menschen, die nicht durch eine stabile Mitgliedschaft in A.A. abstinent werden, die Wahrscheinlichkeit und Schwere von Rückfällen erhöhen könnte.

Auch wenn dies nicht völlig abgesichert ist deutet einiges darauf hin, daß ältere männliche Mittelschichtsangehörige, deren Trinkerfahrungen dem Alkoholismus-Modell von A.A. ähnlich sind und deren Grundhaltung von Konservatismus und Religiosität geprägt ist am wahrscheinlichsten von A.A. profitieren.

Zu der Zeit, als Alcoholics Anonymous die Bühne betrat wußten die professionellen Helfer mit Menschen mit Alkoholproblemen nichts rechtes anzufangen. Viele dieser Menschen haben in A.A. einen neuen Lebensweg ohne Alkohol gefunden. Insbesondere in der Medizin wurden die Erfolge von A.A. jedoch offensichtlich kurzerhand als Zeichen aufgefaßt, daß auch das dahinterstehende Modell ein korrektes Abbild der Realität darstellt. Bereitwillig wurde das Krankheitsmodell des Alkoholismus als medizinisches Modell übernommen und weiter ausgebaut.

Dieses Modell gewann jedoch zusehends die Qualität eines Dogmas, das von der Lobby aus Alcoholics Anonymous und Medizin erbittert gegen alle Anfechtungen verteidigt wurde. Weil nicht sein kann was nicht sein darf sahen sich Wissenschaftler, die zu Ergebnissen kamen, die das Krankheitsmodell in Frage stellten erheblichen Anfeindungen ausgesetzt. Im Hinblick auf Studien, die nachwiesen, daß viele Alkoholiker wieder zu kontrolliertem Trinken zurückkehren, erklärte z.B. Marty Mann, solche Forschung könne Alkoholiker in Wahnsinn und Tod treiben[ zit. n. Sobell/Sobell 1976, S 211].

Von Verfechtern des Krankheitsmodells werden Widersprüche kurzerhand wegrationalisiert; so ist beispielsweise zu hören, Trinker, die zu kontrolliertem Trinken zurückgekehrt sind seien eben keine Alkoholiker[ vgl. Zocker 1989, S 60]. Dies entbehrt durchaus nicht einer gewissen Logik. Letztendlich ist das Krankheitskonzept eine Tautologie, zu dem kein Gegenbeweis möglich ist. Alkoholismus ist per Definition unheilbar und progressiv; dies kann jedoch erst im nachhinein festgestellt werden, so daß die Alkoholiker, deren Alkoholprobleme eine andere Entwicklung nahmen aus der Definition herausfallen.

Daß die Ideologie einer Organisation weitgehend den Status eines wissenschaftlichen Dogmas erlangt hat ist bedauerlich. Hier zeichnet sich möglicherweise auch eine Wende ab; in der neuesten Ausgabe des DSM3R (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) wurde "Alkoholismus" als medizinische Diagnose gestrichen und durch die Begriffe "Alkoholabhängigkeit" und "Alkoholmißbrauch" ersetzt[ vgl. Trimpey 1990, S 11]. Hier könnte sich eine Abkehr vom Konzept von Alkoholismus als monolithischer Krankheit mit einheitlichen Ursachen und einheitlichem Verlauf abzeichnen.

Keine Trendwende ist in Bezug auf die Therapie von Problemtrinkern abzusehen. Wie eingehend geschildert wurde hat Alcoholics Anonymous hier faktisch eine Monopolstellung errungen. Menschen mit Alkoholproblemen werden unterschiedslos an Behandlungsprogramme überwiesen, die ihre Hauptaufgabe darin sehen, ihre Patienten davon zu überzeugen, daß sie dem Alkohol gegenüber machtlos sind und nur A.A. sie retten kann. Es gibt jedoch eine Vielzahl von Hinweisen, die darauf hindeuten, daß Alcoholics Anonymous zumindest nicht für alle Problemtrinker hilfreich und für mache völlig ungeeignet ist. Die Bedürfnisse der vielen Menschen, die sich nicht mit A.A. identifizieren können werden so in unverantwortlicher Weise mißachtet. Deshalb ist es unabdingbar, Alternativen zu Alcoholics Anonymous zu schaffen.

Hier stellt sich ein grundsätzliches Dilemma. Nicht nur die Effizienz von Alcoholics Anonymous ist bislang nicht wissenschaftlich belegt, auch die anderer Therapierichtungen ist fraglich. Nach wie vor zeigen viele Auswertungen von Behandlungsprogrammen keine oder nur unwesentlich bessere Ergebnisse als gar keine Behandlung[ vgl. Greven 1985, S 1] und bislang konnte keine Therapierichtung belegen, besser als eine andere zu sein[ vgl. Office of Technology Asessment 1983, p 53]. Daraus den Schluß zu ziehen, Therapie wäre völlig nutzlos ginge sicher zu weit. Möglicherweise kommen auch hier die schlechten Ergebnisse dadurch zustande, daß Alkoholprobleme individuell unterschiedliche Ursachen haben können und das deshalb nicht jeder für jedes Therapieprogramm gleichermaßen geeignet ist. Um dies zu klären ist sicher noch weitere Forschung nötig.

Die schwachen Ergebnisse verschiedener Therapierichtungen legen nahe, daß die Alternative zu A.A. nicht unbedingt professionelle Therapie sein muß. Zur Überwindung von Alkoholproblemen ist wahrscheinlich soziale Unterstützung durch Gleichgesinnte hilfreich. Grundsätzlich hat sich das Konzept von Selbsthilfegruppen durchaus bewährt[ vgl. Brandsma 1980, S 115], nur brauchen diese nicht notwendigerweise auf den spirituellen Prinzipien von Alcoholics Anonymous beruhen. Die Anregung anderer Selbsthilfegruppen für die Problemtrinker, die sich mit A.A. nicht identifizieren können könnte eine Aufgabe der Sozialarbeit sein.


 <-  ->     © 1990/1997 Peter Daum