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5. A.A.'s Stellung in der nordamerikanischen Gesellschaft


Der Einfluß, den Alcoholics Anonymous vor allem in den U.S.A., aber auch in Kanada, auf alle Bereiche, die mit Alkohol bzw. Alkoholismus zu tun haben gewonnen hat, läßt sich nur schwer genau bestimmen. So kommt z.B. Barry Leach[1973, SS 256 f] zu dem Schluß:

Kein anderes System Alkoholikern zu helfen hat ein derartig ausgebreitetes einheitliches Netzwerk und eine zentrale Informationssammlungs und -verteilungseinrichtung wie AA. Es übt deshalb einen mächtigen und allgegenwärtigen, wenn auch manchmal schattenhaften, Einfluß auf Behandlung und Forschung des Alkoholismus aus, der weit über den bekannten, engen Interessenbereich hinausgeht
Die Schattenhaftigkeit dieses Einflusses ist nicht zuletzt durch die "12 Traditionen"[ für eine Zusammenstellung der 12 Traditionen siehe Anhang Fehler! Textmarke nicht definiert. auf Seite Fehler! Textmarke nicht definiert.] von Alcoholics Anonymous bedingt. Diese scheinen auf den ersten Blick einer solch massiven Einflußnahme im Wege zu stehen: A.A. soll für immer nichtprofessionell bleiben, keine Meinung in Außenangelegenheiten vertreteten, sich nicht mit irgendwelchen außenstehenden Institutionen assoziieren, und die Öffentlichkeitsarbeit soll ausschließlich auf Anziehung und nicht auf Werbung beruhen. Der Widerspruch ist jedoch nicht unauflösbar.

Wie so oft ist hier auf das Kleingedruckte zu achten. So heißt es beispielsweise in den Erläuterungen zur 8. Tradition (Nichtprofessionalität):

Wir können A.A. nicht zu einer so geschlossenen Gesellschaft erklären, daß wir unser Wissen und unsere Erfahrung streng geheim halten. Wenn ein als Bürger handelndes A.A.-Mitglied ein besserer Forscher, Erzieher, Personalchef werden kann, dann warum nicht? Jeder gewinnt und wir haben nichts verloren.[ Alcoholics Anonymous World Services Inc. 1953, S 171]
Mit anderen Worten, die in den Traditionen gemachten Einschränkungen sind formaler Natur und betreffen nur Alcoholics Anonymous als Organisation. Wenn sich A.A.-Mitglieder in außenstehenden Institutionen engagieren und auf diese Art und Weise das Wissen und die Erfahrung von Alcoholics Anonymous weitergeben, dann ist das durchaus willkommen; nur gelten sie dabei als reine Privatpersonen.

So haben A.A.- Mitglieder oder A.A. Nahestehende maßgeblich die amerikanische Gesetzgebung in Sachen Alkoholismus geformt[ vgl. Kurtz 1987, SS 172 f] und durch ihre Mitarbeit in zahlreichen Gremien erheblichen Einfluß auf die Forschung sowie auf öffentliche Aufklärungsprogramme über Alkohol ausgeübt. Stellvertretend für diese Arbeitsteilung zwischen Alcoholics Anonymous und öffentlichen Stellen sei hier nur ein Beispiel genannt:

... der National Council on Alcoholism [bewies sich] als unschätzbare Hilfe. Der Aufklärung im weitesten Sinne gewidmet konnte der N.C.A. tun was A.A. nicht tun konnte: Öffentlich die öffentliche Meinung und Politik zu beeinflussen suchen. Daß der N.C.A. unter Marty Mann eingebettet in und geführt von der Alcoholics Anonymous- Philosophie war, wurde von den meisten als glücklicher Zufall betrachtet.[ ib., S 174]
Darüber hinaus betreibt A.A. auch als Organisation rege Öffentlichkeitsarbeit. Vertreter von A.A. ziehen aus und sprechen vor Highschools, medizinischen Gesellschaften, Polizei und Bewährungsabteilungen, Bürgergruppen etc[ vgl. Boscarino 1977, S 112]. Bei solchen "offiziellen" öffentlichen Auftritten von A.A.- Mitgliedern ist lediglich darauf zu achten, daß deren Anonymität gewahrt bleibt und insbesondere anwesende Pressevertreter von der Veröffentlichung von Namen oder Bildern abgehalten werden[ vgl. Alcoholics Anonymous World Services Inc. 1953, S 186].

Insgesamt war Alcoholics Anonymous mit dieser breitgefächerten Öffentlichkeitsarbeit überaus erfolgreich. Es ist A.A. weitgehend gelungen, die vorherrschende Definition sowohl von akzeptablem Alkoholgebrauch als auch von Alkoholmißbrauch bzw. Alkoholismus maßgeblich zu bestimmen[ vgl. Boscarino 1977, S 111] und gleichzeitig das eigene Programm als die Lösung bekanntzumachen. In der allgemeinen Öffentlichkeit ist AA die einzige klar wahrgenommene Hilfequelle für Personen mit Alkoholproblemen[ vgl. McLatchie/Lomp 1988, S 310].

5.1. A.A. und Medizin

An sich ist das Verhältnis von Alcoholics Anonymous zur professionellen "Behandlung" von Alkoholismus durchaus zwiespältig. In gewissem Sinne war A.A. ja angetreten, um angesichts des empfundenen Versagens der Profis einen neuen Weg zu gehen:

Von den besten Professionellen, ob aus dem Bereich der Medizin oder der Religion, wurde so gut wie nie jemals eine Genesung vom Alkoholismus zuwege gebracht. Wir lehnen Professionalismus in anderen Gebieten nicht ab, aber wir akzeptieren die nüchterne Tatsache, daß er für uns nicht funktioniert[ vgl. Alcoholics Anonymous World Services Inc. 1953, S 166]
Andererseits hat sich A.A. bewußt nicht als Gegenbewegung zur professionellen Alkoholismusbehandlung präsentiert, sondern immer beteuert, in Konkurrenz zu niemandem zu stehen[ vgl. Alcoholics Anonymous World Services Inc. 1974, S 5], und insbesondere alles vermieden, was religiösen oder medizinischen Autoritäten mißfallen könnte. So hatte sich schon früh in der Entwicklung von Alcoholics Anonymous eine enge Allianz zwischen A.A. und der medizinischen Profession herausgebildet.

Diese Allianz ist durchaus zu beiderseitigem Nutzen. Alcoholics Anonymous vertritt vehement ein Konzept von Alkoholismus als "Krankheit". Natürlicherweise hat die medizinische Profession ebenfalls erhebliche ökonomische und Statusinteressen daran, Alkoholabhängigkeit als Krankheit in medizinischem Sinne zu definieren. Wenn Alkoholismus eine "Krankheit" ist, dann ist klar, daß für die Erforschung und Behandlung dieser Krankheit die Ärzte zuständig sind.[ vgl. Hurvitz 1974, S 126].

Der Glaube an das Krankheitskonzept hat eine lange Geschichte, die in den medizinischen Gedanken des kolonialen Amerika verwurzelt ist[ vgl. Fappiano 1983, SS 9 f]. Vorherrschend jedoch war zumindest bis in die dreißiger Jahre dieses Jahrhunderts das moralische Modell gewesen, das die Ursache für unmäßigen Alkoholkonsum in Immoralität oder einem Mangel an Willensstärke sieht[ vgl. Shaffer/Stimmel 1983, p 92]. In den fünfziger Jahren wurde Alkoholismus sowohl von der World Health Organization als auch von der American Medical Association formal als Krankheit in medizinischem Sinne anerkannt[ vgl. Office of Technology Asessment 1983, S 10]. Grundsäulen dieses nach wie vor herrschenden Modells sind:

Daß dieses Konzept weitgehend mit dem Alkoholismus-Modell von Alcoholics Anonymous identisch ist, ist unübersehbar. In der Medizin war es hauptsächlich E. M. Jellinek, der dem Krankheitsmodell zum Durchbruch verhalf und es weiter konkretisierte. Hervorzuheben ist hier insbesondere die bekannte Phasenlehre des Alkoholismus. Entstanden war die Arbeit auf Anregung von Alcoholics Anonymous und befragt worden waren ausschließlich A.A.-Mitglieder[ vgl. Boscarino 1977, SS 34 f]. Jellinek selbst wollte die Phasentheorie ausdrücklich als Arbeitshypothese verstanden wissen[ vgl. Pattison/Sobell 1977, S 9]; nichtsdestotrotz wurde die Theorie insbesondere in medizinischen Kreisen weithin akzeptiert[ vgl. Nace 1987, SS 9 ff].

5.2. A.A. und professionelle Alkoholismus- Behandlung

Am stärksten ist der Einfluß von A.A. im Bereich professioneller Alkoholismustherapie sichtbar. Schon 1966 basierte in 88% der staatlichen Krankenhäuser in den U.S.A. die Alkoholismusbehandlung in erster Linie auf dem Programm von Alcoholics Anonymous[ vgl. Tournier 1979, S 231]; inzwischen sind Behandlungsprogramme, in denen A.A. nicht formeller oder informeller Teil der Behandlung ist, eine Seltenheit geworden[ vgl. McLatchie/Lomp 1988, S 310].

5.3. Das "Minnesota- Modell"

Die von A.A. geprägte Form der Alkoholismustherapie wurde hauptsächlich als "Minnesota-Modell" bekannt. Derartige Programme werden von Medizinern geleitet und akzeptieren das Krankheitskonzept des Alkoholismus, sind an den Prinzipien von Alcoholics Anonymous orientiert und benutzen "genesende Alkoholiker" als Schlüsselmitglieder des Behandlungsteams[ vgl. Hoffmann/Harrison/Belille 1983, S 313]. Unter "Genesenden Alkoholikern" sind Mitglieder von Alcoholics Anonymous zu verstehen, denn normalerweise werden ausschließlich diese eingestellt[ vgl. Boscarino 1977, S 181]. Inzwischen sind schon 60% aller professionell mit der Therapie von Alkoholproblemen befaßten A.A.-Mitglieder[ Bradley 1988, S 193].

Geary S. Alford liefert in seinem Versuch, die Effektivität von A.A. nachzuweisen, die Beschreibung eines solchen Behandlungsprogramms, die meines Erachtens stellvertretend für die derzeit in den U.S.A. am weitesten verbreitete Form der Alkoholismustherapie stehen kann[ vgl. Alford 1980, SS 361 f]. Das gesamte Programm ist an der Philosophie von Alcoholics Anonymous ausgerichtet. Ziel der Therapie ist insbesondere, die Patienten dazu zu bewegen, sich Alkoholismus als Krankheit vorzustellen, die zwar nicht geheilt, aber aufgehalten werden kann, sie von ihrer völligen Machtlosigkeit gegenüber Alkohol zu überzeugen, in ihnen die typischen Charakterdefekte, die als "Teil der Krankheit" betrachtet werden nachzuweisen, und natürlich, sie dazu zu bewegen, sich in Alcoholics Anonymous zu engagieren. Einzelkomponenten dieses Programms sind:

War ursprünglich noch das persönliche "12-stepping", also das Weitertragen der Nachricht von A.A. in persönlichem Kontakt durch "ältere" A.A.-Mitglieder, Hauptquelle von neuen Mitgliedern in Alcoholics Anonymous, so gewann das "professionelle 12-stepping" durch Behandlungsprogramme wie das eben beschriebene während der letzten zwei Jahrzehnte zunehmend an Bedeutung. Inzwischen schreiben 36 Prozent aller A.A.-Mitglieder ihre Mitgliedschaft dem Einfluß professioneller Alkoholismusbehandlung zu[ vgl. Bradley 1988, S 193]. Damit stellen professionelle Therapieprogramme das wichtigste Instrument der Mitgliederrekrutierung für Alcoholics Anonymous dar.


 <-  ->  ^   © 1990/1997 Peter Daum