Angesichts der weltweiten Corona-Pandemie ist solidarisches Handeln nötiger denn je. In den kommenden Wochen richten wir daher den Blick auf die Gemeinwesenarbeit von ASH-Kooperationsprojekten im In- und Ausland und ihren Umgang mit der Corona-Pandemie. Jede Woche stellen wir dabei ein Projekt vor.
Heute veröffentlichen wir einen Bericht von Paula Maether, Studierende der ASH Berlin im Masterstudiengang Praxisforschung in Sozialer Arbeit und Pädagogik. Sie schildert die aktuelle Situation in Argentinien, beschreibt die Auswirkungen der von der Regierung verhängten Ausgangssperre vor allem auf die ärmsten Bevölkerungsschichten und wirft die Frage auf: Wer bezahlt am Ende diese Krise?
"Die Pandemie der Ungleichheit muss gestoppt werden"
Alles ist still in der Tiefe der Peripherie von Buenos Aires. Die normalerweise vollen Straßen sind wie ausgestorben. Nur einige Lebensmittelgeschäfte haben geöffnet, aber sie verkaufen aus den Fenstern heraus oder von improvisierten Theken in den Türeingängen.
Keine Cumbia-Musik ist zu hören, ein unüberhörbares Signal dafür, dass sich die Stimmung der Bevölkerung deutlich verändert hat. Argentinien ist seit dem 19. März lahmgelegt, nachdem die neue Regierung unter Alberto Fernandez das Dekret DNU (Decreto de Necesidad y Urgencia) erlassen hat.
Die Ausgangssperre und die Quarantäne sind total, was eine sehr weitgehende und komplizierte Entscheidung für das Land bedeutet, welches die schlimmste Wirtschaftskrise noch nicht überwunden hat. Dennoch sind die meisten Menschen mit diesen Maßnahmen einverstanden, 90% der Bevölkerung sind in den letzten Wochen zu Hause geblieben im Bewusstsein des Defizits des argentinischen Gesundheitssystems und seiner Anfälligkeit gegenüber einer Situation allgemeiner Ansteckungsgefahr. Die Bilder aus Norditalien oder die verlassenen Leichen auf den Straßen von Quito haben für Entsetzen gesorgt.
Die Nachbarschaften werden seither sehr sorgfältig überprüft, illegal fahrende Autos werden beschlagnahmt und die Besitzer_innen müssen mit Anklagen rechnen. Für Menschen, die im informellen Sektor arbeiten, stellt diese neue Situation eine immense Belastung dar. „Quedate en casa“ – „Bleib zu Hause“ war das Motto der Kampagne, die von der Regierung initiiert wurde.
Aber wer sind diejenigen, die tatsächlich zu Hause bleiben können? In einer Wirtschaft, die nach vier Jahren radikal-neoliberaler Politik unter der Vorgängerregierung von Mauricio Macri quasi vor dem Bankrott steht. Mehr als drei Millionen Menschen sind auf die informelle Ökonomie angewiesen.
In vielen „informellen“ Siedlungen in der Peripherie von Buenos Aires aber auch in der Hauptstadt selbst gibt es große Mängel der Infrastrukturen, so gibt es häufig kein Leitungswasser und keine Kanalisation. Darüber hinaus leidet das Land in den letzten Jahren aufgrund der hohen Temperaturen regelmäßig eine weitere Epidemie, das von Mücken übertragene Denguefieber.
Viele Familien leben auf sehr engem Raum, was im Krankheitsfall eine Isolierung zu Hause unmöglich macht. Die große Sorge ist, dass sich die Pandemie in diesen armen Vierteln rasch ausbreiten kann. Eine Sorge, die sich in den letzten Tagen (etwa seit dem 11. Mai) zu bewahrheiten scheint. Die Villa 31, das größte einzelne Elendsviertel (Villa Miseria) von Buenos Aires, ist aktuell der Fokus der Covid-19-Pandemie. Die Regierung der Hauptstadt ist eine politische Bastion der vorherigen Macri-Regierungskoalition und wird von dieser regiert. Trotz aller Warnungen über die katastrophalen Folgen eines Ausbruchs der Pandemie in diesem dicht besiedelten Ort, wurde nicht nur nichts unternommen, sondern die ständige Forderung nach hygienischen Bedingungen und ausreichender Wasserversorgung ignoriert.
„Wir sind die Beatmungsgeräte der Nachbarschaften“
Diese Prekarität, die in Argentinien seit vielen Jahren strukturell bedingt ist, wird auch historisch gesehen von den sozialen Organisationen bekämpft. Territoriale Organisationen haben in Argentinien, besonders seit Ende der 90er Jahre eine enorme Bedeutung. Volksküchen, die Verteilung von Lebensmitteln und Spendenkampagnen sind in solchen Krisenmomenten entscheidend für das Überleben in den Barrios, wo staatliche Hilfe nicht ausreichend oder erst sehr verspätet ankommt.
„Seit vier Jahren organisieren wir uns in der Vereinigung der Bauern von Varela (eine ländlich geprägte Region im Süden der Provinz Buenos Aires). Jetzt, in dieser Zeit der Pandemie, spenden wir Gemüse an unsere compañeros in den Suppenküchen". Dies erzählen Horacio Navarro und seine Genoss_innen, die die Bauerngewerkschaft Florencio Varela vertreten. Die Vereinigung setzt sich hauptsächlich aus bolivianischen Migrant_innen zusammen, die eine große Gemeinschaft im südlichen Teil der Provinz Buenos Aires bilden.
Der Organisationsgrad der Stadtviertel im Ballungsraum Buenos Aires ist überraschend hoch. Die historischen Erfahrungen mit der Konfrontation verschiedener neoliberaler Experimente, haben in Argentinien einen politischen Weg markiert. Insbesondere in Buenos Aires, der bevölkerungsreichsten Region Argentiniens sind es die kollektiven Organisationen, die in Krisensituationen wie auch in dieser Pandemie, die am meisten gefährdete Bevölkerung in den Vierteln unterstützt. In einem sehr informativen Artikel in der Zeitung „El Salto“ formuliert die Soziologin Veronica Gago folgendes: “Der Zusammenbruch wird durch das Gesundheitspersonal und die Netzwerke und Volksorganisationen eingedämmt, die vom Mundschutz bis zur Verteilung von Lebensmitteln alles produzieren. Heute ist es mehr denn je möglich, die Klassensegmentierung anhand des Zugangs zur Gesundheitsversorgung in Frage zu stellen.“
Die Pandemie der Ungleichheit müsse gestoppt werden, sagen die Bewohner_innen der Villa 21. Wir sind die Lunge der Nachbarschaften, sagen die Nachbarn und Nachbarinnen, die die Verantwortung für die Suppenküchen übernommen haben, die sich zu Hunderten vermehren. Es sind die Frauen, die am stärksten betroffen und zugleich die Trägerinnen der Selbsthilfe sind. Zusammen mit den Kindern sind die Frauen durch die obligatorische Quarantäne erheblich belastet - oft mit ihren Angreifern eingesperrt. Angst und Unsicherheit sind offensichtlich, die häusliche Gewalt nimmt rapide zu und in zehn Tagen Ausgangssperre werden 11 Frauen und ein Kind ermordet. Aber auf der anderen Seite sind es vor allem die Frauen, die der Krise mit größter Kraft begegnen, eine Kraft, die ihre Wurzeln in der Geschichte der argentinischen Frauenbewegung hat.
Eine große Geschichte der Frauenbewegung
Am 8. März 2020 fand in Buenos Aires ein Riesenmarsch anlässlich des Internationalen Frauentags statt. Mehr als eine halbe Million Frauen, Lesben, Transsexuelle und andere marschierten mit dem Slogan „Frei, lebendig und unbelastet, wir lieben uns" zum Nationalkongress, es war die letzte große Mobilisierung vor der Pandemie, die zehn Tage später das Land lahmlegen sollte.
Argentinien hat eine lange und große Geschichte der Frauenbewegung, deren jüngere Geschichte mit den seit 1985 stattfindenden Nationalen Frauentreffen (Encuentro nacional de mujeres) ihren Anfang nahm und an dem sich im letzten Jahr über 200.000 Frauen* beteiligten. Die schon starke Frauenbewegung gewann mit dem Hinzukommen neuer Bewegungen wie „Ni una Menos“ in den letzten Jahren eine ungewöhnliche Massivität, durch die die zunehmende Gewalt gegen Frauen* sichtbar wurde. Die Unterstützungssysteme des Sozialministeriums in Bezug auf Gewalt in der Familie funktionieren während der Quarantäne praktisch nicht, da die Sozialarbeiter_innen nur online kommunizieren können. Das dünne staatliche Unterstützungsnetz während der Pandemie ist praktisch nicht existent.
Die Sozialarbeiterin Cecilia Dalla Cia bringt die Situation in einem Artikel für die Zeitschrift Hamartia auf den Punkt: „Über die Hotlines hinaus wird die Notfallpolitik durch einen starken Fokus auf Polizei und Justiz als Hauptreaktionen unterstützt. Die Notfallmechanismen, die funktionieren, haben als Protagonisten die Polizei oder Agenten der Sicherheitskräfte und der Justiz. Auch hier gibt es nicht genügend Fachleute aus anderen Disziplinen, die in der Lage sind, psychosoziale Interventionen angesichts des Notfalls durchzuführen. Der Kontext der Pandemie zeigt, dass es keine Notfallmechanismen gibt, um eine qualitativ hochwertige Pflegepolitik zu gewährleisten, die die Rechte derer respektiert, die die Gewalt tagtäglich überleben.“
Das Leben in den Vierteln während der Quarantäne hat auf sehr grobe Weise die endemischen Situationen der Ungleichheit gezeigt, unter denen Argentinien leidet. Die Maßnahmen der Regierung, die weitgehend positiv sind, reichen bei weitem nicht aus. Der Nachbar Nelson Santa Cruz schreibt in der online-Zeitschrift Citrica: „Ich vermisse es, einen Mate zu teilen. Diese unerträgliche Pause brachte diejenigen von uns, die in Gruppen, in Kollektiven, in Versammlungen lebten, aus dem Gleichgewicht und isolierten uns, obwohl es ihr nicht gelang, uns vollständig zu trennen. Wir konnten psychologische Hilfe bekommen, es gibt Nachbarn, die andere anrufen, die geschlechtsspezifische Gewalt erleiden, und obwohl die Kapazitäten in den Comedores (Volksküchen) wie Kaugummi ausgedehnt sind, ist sich die Nachbarschaft einig, die Brände der in diesem Zusammenhang verstärkten strukturellen Probleme zu löschen.“
Wer bezahlt diese Krise?
„Erbärmlich“, sagte Präsident Alberto Fernandez, als einer der größten Bau- und Stahlkonzerne Argentiniens die Gruppe Techint von Paolo Rocca beschloss, 1.450 Beschäftigte zu entlassen. Eine unerhörte Zurschaustellung von Egoismus und Profitstreben inmitten der Pandemie. Der Skandal für die großen argentinischen Medien war nicht die Entlassung der Arbeiter_innen, sondern die Verwendung des Wortes „erbärmlich“, das ihrer Meinung nach Folgen haben und den Industriellen Angst einjagen würde. Weitere „Skandale“ waren die Andeutung der Regierung, dass sie ihre Schulden gegenüber ausländischen Gläubigern nicht bezahlen würde und ein Gesetz zur Steuererhöhung auf große Vermögen geplant sei.
Neoliberale Politiker, Reaktionäre, die Teil der vorherigen Regierung waren und die in Argentinien nur verbrannte Erde hinterlassen haben, attackieren mit Verleumdungskampagnen und in Zusammenarbeit mit einflussreichen Medienkonzernen die Regierung regelmäßig, wenn Privilegien drohen verloren zu gehen.
Die entscheidende Frage ist, wer für diese große Krise bezahlen wird. Werden es wieder die ärmsten Bevölkerungsschichten sein? Unter Berücksichtigung aktueller statistischer Daten ergibt sich das folgende desolate Bild: Die Ergebnisse für die zweite Hälfte des Jahres 2019 für alle städtischen Agglomerationen zeigten, dass der Prozentsatz der Haushalte unterhalb der Armutsgrenze 25,9% erreichte, was 35,5% der Menschen entspricht. Innerhalb dieser Gruppe wurden 5,7% der Haushalte unterhalb der Bedürftigkeitslinie ermittelt (d.h. unterhalb des Existenzminimums). In absoluten Zahlen sind das 2.236.711 Menschen. (vgl. Bericht INDEC (Centro de estadisticas y censos) 04.2020). Für die nahe Zukunft wird prognostiziert, dass die Armut 52,2% erreichen wird. Werden dann die großen Unternehmen, wie das von Paolo Rocca, internationaler Monopole und Großgrundbesitzer, die von den vier Jahren der vorherigen Regierung unter Mauricio Macri profitiert haben, für diese Krise bezahlen?
Das ist die große Diskussion und die große Schlacht, die jetzt in Argentinien geschlagen wird. Die Pandemie hat diese historischen Widersprüche der ökonomisch abhängigen Länder dramatisch verschärft, wie der Autor Carlos Villalba die Situation auf den Punkt bringt: „Für die überwiegende Mehrheit der Länder Lateinamerikas und der Karibik bedeutet die Analyse der aktuellen sozio-gesundheitlichen Situation die Erkenntnis, dass die Pest, Epidemie, Pandemie oder wie auch immer das ‚Phänomen‘ genannt wird, nicht durch SARS-CoV2 hervorgerufen wurde, sondern in jedem von ihnen installiert wurde, bevor das Virus auf ihren Flughäfen, Häfen oder Landesgrenzen landete. Sie war das Produkt einer Wirtschaftspolitik, die von den konzentrierten Machtsektoren der Weltwirtschaft aufgezwungen wurde.“
Die Regierung handelte schnell, um die Krise zu bewältigen, und ergriff konkrete und restriktive Gesundheitsmaßnahmen, die die Wachstumskurve des Virus verlangsamten. Im Gegensatz zu anderen lateinamerikanischen Ländern, insbesondere dem paradigmatischen Fall Brasiliens mit Bolsonaro, dem lateinamerikanische Trump, an der Spitze. Aber das reicht in einem von der Wirtschaftskrise verwüsteten Land nicht aus, Argentinien bewegt sich auf sehr dünnem Eis. Die konservative Opposition nutzt die Situation, um die neue Regierung zu schwächen und es gibt einen sehr großen Druck seitens der „Märkte“ und seiner Lobbyisten, die obligatorische Quarantäne zu beenden und die Maßnahmen der Regierung in Frage zu stellen. Leider zahlt sich dieser Druck aus und die Regierung gibt ihre Position auf, indem sie zum Beispiel auf eine Steuer auf große Vermögen zu verzichten scheint.
So weit weg und doch so nah
"Wenn das alles vorbei ist, gehe ich raus und renne, bis mir die Puste ausgeht, trinke mit dem Nachbarn einen Mate und umarme alle", sagte mir meine 80-jährige Mutter, als ich während der Quarantänezeit noch bei ihr in Buenos Aires zu Besuch war. Mich überraschte ihr Optimismus, weil alles darauf hindeutete, dass dies ein langer Weg sein wird. Die Pandemie verändert die Welt und das soziale Verhalten.
Leider vertiefen sich die Ungleichheiten und das Virus diskriminiert nicht, aber der Neoliberalismus tut es und die durch dieses Modell verarmten Länder sind selbst enorme Risikogruppen, ebenso wie die Armen und Minderheiten in den reichen Ländern. Indigene werden in Massengräbern am Amazonas begraben, überwiegend Afroamerikaner_innen und Lateinamerikaner_innen sind in den Vereinigten Staaten an mangelnder medizinischer Versorgung oder Fehlverhalten gestorben. Es sind die armen Menschen in der Villa 31 in der Stadt Buenos Aires, die ohne Wasserversorgung ignoriert werden und bei denen im Moment der schärfste Pandemiefokus entfesselt ist, woraus sich der Höhepunkt der Pandemie in Argentinien entwickeln könnte. Die Verdammten dieser Erde sind noch immer diejenigen, die die Kosten von Krisen tragen.