University Life, Hochschulleben Spargel und Erdbeeren: Solidarität mit streikenden Erntehelfer*innen in Bornheim

Im dritten Teil der Reihe „Blick über den Tellerrand“ berichtet eine ASH-Studierende der Sozialen Arbeit über die Situation rumänischer Saisonkräfte

„Die Verdammten dieser Erde sind noch immer diejenigen, die die Kosten von Krisen tragen.“ - So endet Paula Maethers Bericht über die Auswirkungen der von der Regierung verhängten Ausgangssperre in Argentinien. Damit soll sie Recht haben. Welche Konsequenzen sich aus dem Erlebten, Gesehenen und Gehörten der vergangenen Tage für mich ergeben, beginne ich erst zu begreifen, als ich den Ort des Geschehens längst verlassen habe und zurück in meiner kleinen, beschaulichen Welt einer Berliner Studentin zurückgekehrt bin. Ein Erfahrungsbericht von Lotta Höfer, Studierende im 2. Semester Soziale Arbeit an der ASH Berlin.

Alles beginnt für mich Montagabend, als ich über eine 15-sekündige Instagram-Story erfahre, dass seit einigen Tagen in Bornheim – irgendwo zwischen Bonn und Köln – rumänische Saisonarbeiter*innen während der Spargel- und Erdbeerernte in einen wilden Streik getreten sind. Vor Ort werden dringend Übersetzer*innen gesucht. Durch meinen Freiwilligendienst in Rumänien habe ich Grundkenntnisse der Sprache. Während ich also herumtelefoniere, um Schlafplatz und Anreise zu organisieren, ziehen bereits mehr als 100 wütende Arbeiter*innen durch Bonn, um beim Konsulat und beim zuständigen Insolvenzverwalter auf ihre Situation aufmerksam zu machen. Unterstützt werden sie von der FAU (Freien Arbeiter*innen Union), einer anarcho-syndikalistischen Gewerkschaft, die sich mit den Menschen vor Ort solidarisiert und ihnen in den kommenden Tagen Unterstützung bei rechtlicher Vertretung, Weitervermittlung und Heimreise bieten wird.

Was war passiert? Der Betrieb, für den die Saisonarbeiter*innen zur Arbeit angereist waren, hatte im März Insolvenz angemeldet. Dennoch arbeiteten in den letzten Wochen weiterhin Saisonarbeiter*innen auf den Feldern und in den Folientunneln der Claus und Sabine Ritter GbR. Nachdem der beauftragte Insolvenzverwalter versprochene Lohnauszahlungen nicht erstatten konnte, wurden die Arbeiter*innen unruhig. Anfang April hatten Agrar- und Innenministerium sich darauf geeinigt, zehntausende Arbeitskräfte für die Ernte einfliegen zu lassen. Aus meinem Jahr in Rumänien weiß ich, wie viele Rumän*innen darauf angewiesen sind, regelmäßig Familie und Kinder zuhause zurückzulassen, um sich mit dem im Gegensatz zum rumänischen Einkommen vergleichsweise hohen Gehalt auf deutschen Höfen oder in Pflegebetrieben, etwas dazuzuverdienen.

Dienstagnacht steige ich dann in den Zug und bin Mittwochmorgen schon am Ort des Geschehens: In Containerunterkünften zwischen Gütergleisen, Kläranlage und Kartoffelacker haben 250 angereiste Saisonarbeiter*innen die letzten Wochen verbracht. Wir erfahren, dass es kein fließend warmes Wasser gäbe, bis zu 5 Menschen auf 8 m² wohnen, 9 von 10 Toiletten nicht benutzbar seien, ganz zu schweigen von den fehlenden Hygienemaßnahmen, die angesichts der aktuellen Corona-Situation andernorts als so existenziell erachtet werden. 

Als ich ankomme, werde ich zu einer Frau gebeten, die mir erzählt, dass sie die letzten 5 Tage und Nächte nicht geschlafen und außer Wasser nichts zu sich genommen habe – der Grund: starke Zahnschmerzen. Wir telefonieren kurz und machen uns dann auf den Weg zu einer befreundeten Zahnärztin in Bornheim. Der betroffene Zahn könnte mit einer Wurzelbehandlung gerettet werden, aber es fehlt an Zeit. Zeit, die die Frau nicht hat. Es bleibt nur übrig, das Nötigste zu tun: den Zahn zu ziehen.

„Das Nötigste zu tun“ wird sich in den kommenden Tagen als Handlungsmaxime unserer Arbeit herausstellen: Anwälte werden eingeschaltet, leere Aktenordner an den Gewerkschaftstisch gebracht, Verträge gesammelt, Personalien aufgenommen, Kontakte geknüpft, Prozesskostenhilfeanträge ausgefüllt und Erdbeeren gegessen. Wir tun, was möglich ist und dennoch stellt sich allmählich heraus – durch die Gespräche, die wir führen und die Begegnungen, die wir machen – wie existenziell bedrohlich die Lage der Betroffenen ist und wie machtlos wir an vielen Stellen sind. Donnerstagnachmittag kommt ein Mann zu uns an den Tisch, der angesichts der aus seinen Augen so ausweglosen Situation droht, Selbstmord zu begehen.

Die FAU geht inzwischen davon aus, dass der Insolvenzverwalter die Arbeiter*innen ganz bewusst nach Deutschland hat holen lassen, im Wissen, dass er sie nicht bezahlen können wird. Im Laufe der Woche werden zwei Mal Löhne an die Arbeiter*innen ausgezahlt, die nach dem jetzigen Stand aber nur einen Teil der ausstehenden Beträge ausmachen. Eine Person erhält einen Umschlag mit fünf Euro. Mittwochnachmittag verfolgen wir Busse, in denen die Arbeiter*innen in Gruppen von zehn Personen separiert werden, um wahlweise zwischen Erdbeertunneln oder auf Supermarktparkplätzen, Umschläge mit Geld in die Hand gedrückt zu bekommen.

Was mir bleibt, als ich mich irgendwann auf den Weg nach Berlin mache, ist ein großes Fragezeichen: Ein Fragezeichen hinter den Arbeitsbedingungen, den Unterbringungen, der ungewissen Zukunft der Arbeiter*innen und deren Familien. Aber noch größer ist das Ausrufezeichen, das über den ganzen Geschehnissen steht, die ich hier nur ansatzweise umreißen konnte. Das Ausrufezeichen hinter Solidarität: Denn Verantwortung beginnt da, wo Machtlosigkeit aufhört.