Forschung #4GenderStudies: Interview zum BMBF-Projekt JupP*

Prof. Dr. Jutta Hartmann und Mart Busche über sexualisierte Gewalt, die Präventation dagegen und welche Rolle dabei pädagogische Praxis spielt.

Wie kann pädagogische Praxis zur Prävention von sexualisierter Gewalt beitragen? Wie können Pädagog_innen dabei den beteiligten Kindern und Jugendlichen mit ihren unterschiedlichen geschlechtlichen und sexuellen Selbstverständnissen, Lebensweisen und Gewalterfahrungen gerecht werden? Das untersuchte das vom Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft geförderte Praxisforschungsprojekts JupP* (Jungen*pädagogik und Prävention von sexualisierter Gewalt. Potenziale und Herausforderungen männlichkeitsbezogener Jugendarbeit, Sexualpädagogik, Prävention sexualisierter Gewalt sowie queerer Bildung). Teilnehmende Wissenschaftler_innen waren Prof. Dr. Jutta Hartmann, Mart Busche und Chris Henzel und der ASH Berlin in Kooperation mit Mitarbeitenden von Dissens – Institut für Bildung und Forschung e.V. Im Mittelpunkt stand das spezifische Wissen zu sexualisierter Gewalt an männlichen* Kindern und Jugendlichen der verschiedenen Praxisfelder. Der Fokus des Teilprojekts der ASH Berlin lag auf den Praxisfeldern Sexualpädagogik und Queere Bildung.

Was genau ist sexualisierte Gewalt gegen Jungs*? Und warum ist dies ein Tabu-Thema?

Mart Busche: Unter dem Begriff ‚sexualisierte Gewalt‘ werden Handlungen gefasst, die sich gegen die sexuelle Selbstbestimmung richten. Der Begriff soll dafür sensibilisieren, wie sexuelle Handlungen oder Konnotationen benutzt werden, um eigene Macht- und/oder Sexualitätsbedürfnisse durchzusetzen. Sexualisierte Gewalt verletzt das Opfer körperlich und/oder psychisch. Zu sexualisierter Gewalt zählen sowohl strafrechtlich relevante Handlungen, wie sexueller Missbrauch, als auch sexuelle Übergriffe (intendierte Verletzung) und sexuelle Grenzverletzungen (nicht-intendierte Verletzung), die nicht unbedingt strafrechtlich relevant sein müssen.

Jutta Hartmann: Über Phänomene der interpersonalen Gewalt hinausgehend verwenden wir den Begriff auch mit Blick auf strukturelle Überschneidungen zwischen sexualisierter Gewalt und Heteronormativität. Sexualisierte Gewalt findet gegen Kinder und Jugendlichen jeglichen Geschlechts statt. Ein öffentliches Bewusstsein über sexualisierter Gewalt gegen Jungen* besteht jedoch erst seit ca. einer Dekade und ist noch nicht in vergleichbarer Weise selbstverständlich wie das gegenüber sexualisierter Gewalt gegen Mädchen*.

Worin besteht der Unterschied zwischen sexualisierter Gewalt gegen Jungs* oder Mädchen*?

Mart Busche: Was die konkreten Akte angeht, gibt es kaum Unterschiede. Aber die Konnotation der Akte ist unterschiedlich, je nachdem wer sie ausführt und wer betroffen ist. Wenn Mädchen* ungefragt Dickpics geschickt bekommen, verstehen die meisten Leute, dass es sich dabei um einen sexualisierten Übergriff handelt oder zumindest um nichtkorrektes Verhalten, weil es ein gesellschaftliches Wissen über Sexismus und sexualisierte Gewalt gegen Mädchen* und Frauen* durch Jungen* und Männer* gibt. Bekommt ein Junge ungefragt Nacktbilder eines Mädchens* zugeschickt und beanstandet dies, sorgt das eher für Irritation, weil es mehr als Bestätigung von Attraktivität und/oder Männlichkeit einsortiert wird und nicht als Angriff auf die sexuelle Selbstbestimmung und die persönlichen Grenzen des Jungen*. Macht sich jemand über die Sextoys einer Trans* oder Inter* Person lustig und greift damit deren geschlechtliche und sexuelle Positionierung an, dann wird dies oft nicht als Form sexualisierter Gewalt erkannt.

Jutta Hartmann: Unterschiede finden sich maßgeblich in Prozessen der Aufdeckung von sexualisierter Gewalt. Wollen die Betroffenen über das Widerfahrene reden, stellt sich für sie die Frage, ob sie damit auf offene Ohren treffen, Anerkennung des Widerfahrenen erleben und ob ihnen überhaupt zugestanden wird, von sexualisierter Gewalt betroffen zu sein. Für die meisten Betroffenen ist es schwierig sich einzugestehen, dass sie wehrlos waren, und dass sie keine Verantwortung für die Gewalt, die ihnen angetan wurde, tragen. Aufgrund von Männlichkeitsidealen, die stark mit Autonomie und Souveränität verknüpft sind, kann sich für Jungen* eine doppelte Schwierigkeit ergeben: dem eigenen wehrhaften Selbstbild nicht zu entsprechen und auch nicht dem Bild, dass die Gesellschaft von (Jung)Männlichkeiten hat. Auf der anderen Seite sind Fachkräfte herausgefordert zu verstehen, was ihre Adressat_innen ihnen in einem Aufdeckungsprozess erzählen. Denn die Gleichzeitigkeit von Männlichkeit und Opferschaft ist für viele nach wie vor schwer zu denken bzw. zu ertragen. Und sie ist noch kein selbstverständlicher Bestandteil des gesellschaftlichen Wissens.

Mart Busche: Mitunter wird dann eher nach Täteranteilen gesucht, insbesondere wenn die Kids nicht weiß sind. Auch müsste die Wahrnehmung für weibliche Täterinnenschaft gestärkt werden: Da wirkt nach wie vor eine starke Dichotomisierung nach dem Muster weibliche Opfer – männliche Täter, deshalb kommen Jungen* und andere Geschlechter als Betroffene schwerer in den Blick. Was die feministischen Aktivist_innen und Forscher_innen seit Jahrzehnten im Bereich Gewalt gegen Mädchen und Frauen erkämpft und erforscht und damit an Wissenstransfer in die Gesellschaft geleistet haben, ist als Kritik am Patriarchat weiterhin wichtig, denn vom Patriarchat sind eben nicht nur Mädchen und Frauen betroffen.

Welche Möglichkeiten der Prävention gibt es?

Mart Busche: Prävention kann in der jeweiligen Praxis an ganz unterschiedlichen Punkten beginnen und Verschiedenes bedeuten. Wir unterscheiden explizite und implizite Prävention. Explizite Prävention setzt sich in inhaltlichen Einheiten mit sexualisierter Gewalt auseinander. Hier werden z.B. unterschiedliche Formen sexualisierter Gewalt, Täterstrategien und Möglichkeiten des Hilfeholens erörtert. Aber auch implizite Prävention ist hilfreich, da sie bspw. Wissen zur Einordnung von bestimmten Erfahrungen als sexualisierte Gewalt und für Offenlegungen derselben vermittelt. In der Sexualpädagogik kann dies eine differenzierte Sprache über Sexuelles, körperliche Empfindungen und Körperteile sein. Queere Bildung entfaltet ein implizites präventives Potential in der Thematisierung von Konsens, der Vermittlung von normkritischem Wissen und einer Sprache für geschlechtliche und sexuelle Lebensweisen.

Jutta Hartmann: Insgesamt ist es uns wichtig, dass Präventionsarbeit verstärkt auch lesbisch, schwul, bisexuell, trans*, inter*, queer, nichtbinär und geschlechterdivers identifizierte bzw. positionierte Adressat_innen als (potenziell) Betroffene sexualisierter Gewalt in den Blick nimmt und pädagogische Settings so gestaltet werden, dass diese sich gesehen und berücksichtigt fühlen können.

Was kann in der Aus-, Fort- und Weiterbildung getan werden?

Mart Busche: Sexualisierte Gewalt gegen Jungen* ist in der Aus-, Fort- und Weiterbildung von Pädagog_innen ein noch immer zu wenig beachtetes Thema. Viele Pädagog_innen stellen daher bei sich selbst und ihren Teams Wissenslücken und Unsicherheiten im Umgang damit fest. Soll in pädagogischen Praxisfeldern mit qualifizierten Fachkräften dazu beigetragen werden, primärpräventiv alle Kinder und Jugendlichen vor sexualisierter Gewalt zu schützen und sekundärpräventiv von sexualisierter Gewalt betroffene Kinder und Jugendliche besser zu unterstützen, dann müssen entsprechende Wissensinhalte zu zentralen Elementen der Curricula in Aus- und Weiterbildung werden.

Jutta Hartmann: Im BA Soziale Arbeit der ASH Berlin ist im Zuge der Curriculum-Reform mit der SPO 2021 die Unit ‚Sexualpädagogische Grundlagen Sozialer Arbeit‘ ins Modul ‚Pädagogische Grundlagen Sozialer Arbeit‘ aufgenommen worden, in der entsprechende Inhalte ihre Berücksichtigung finden. Im Rahmen von JupP* wurden ein Erklärfilm für die pädagogische Arbeit zum Thema entwickelt sowie ein Buch mit Forschungsergebnissen und eine Handreichung mit Impulse und verschiedenen praxisorientierte Anregungen für die Aus-, Fort- und Weiterbildung verfasst. Die Veröffentlichungen stellen ein Angebot für pädagogische Fachkräfte und Multiplikator_innen dar, die sich der Prävention sexualisierter Gewalt (nicht nur) gegen Jungen* in ihrem jeweiligen Arbeitskontext aus einer männlichkeits- und heteronormativitätskritischen Perspektive zuwenden wollen.

Hinweise zu Artikeln, Buch, Handreichung und Erklärfilm finden sich auf der JupP*-Homepage.

 

 

Das Interview erscheint im Rahmen des #4GenderStudies-Wissenschaftstag am 18. Dezember 2021. Dabei nutzen Wissenschaftler*innen, Forschungseinrichtungen und andere den Hashtag, um auf ihre Arbeiten aus dem Bereich der Geschlechterforschung aufmerksam zu machen und von ihren Forschungen zu berichten.