Gesundheit Ergotherapie in Deutschland – Ein Beruf in der Sackgasse?

Offener Brief von Professor_innen zum Welttag der Ergotherapie

 ***English version below***

Anlässlich des Welttages der Ergotherapie 2020 möchten wir als Ergotherapieprofessor*innen der öffentlichen Hochschulen auf die aktuell besorgniserregende Situation der Ergotherapie in Deutschland aufmerksam machen:

Während weltweit die Berufsqualifikation Ergotherapie regulär ein Hochschulstudium erfordert, gehört Deutschland neben Uganda, Malaysia und Japan zu den letzten vier der 101 im Weltverband der Ergotherapie (WFOT) organisierten Länder, in denen ein grundständig akademischer Ergotherapieabschluss noch kein Standard ist. Damit zählt Deutschland zu den Schlusslichtern der Akademisierung der Ergotherapie in der Welt. Dies hat fatale Konsequenzen nicht nur für das Potential des Berufes, sondern auch für die Qualität der Gesundheitsversorgung in Deutschland. Zusätzlich wird damit die internationale Anschlussfähigkeit von deutschen Ergotherapeut*innen gefährdet.

Wir leben in einer Gesellschaft, in der einerseits Menschen zunehmend länger leben, jedoch gleichzeitig eine wachsende Anzahl an chronischen und Mehrfacherkrankungen leidet. Insofern wird es immer bedeutsamer, passgenaue therapeutische Unterstützungsangebote zu entwickeln, die es den Betroffenen ermöglichen, möglichst lange ihren Alltag selbstständig meistern zu können und in ihrem vertrauten Lebens- und Arbeitsumfeld zu bleiben. Als Gesundheitsberuf nimmt die Ergotherapie Fokus auf das alltägliche Handeln der Patient*innen, ermöglicht Teilhabe und Gesundheit von Personen oder Personengruppen in vielfältigen Lebenslagen und trägt damit zum Aufbau einer inklusiven Gesellschaft bei.

Die aktuellen Veränderungen in Gesellschaft und Gesundheitswesen erfordern erweiterte Qualifikationen und Kompetenzen von Angehörigen der Gesundheitsfachberufe. Damit Ergotherapeut*innen diesen Anforderungen gerecht werden können, bedarf es einer hochschulischen Qualifikation. Dieser Bedarf wurde bereits in der Schweiz und in Österreich erkannt, dort werden folgerichtig seit 2006 bzw. 2008 Ergotherapeut*innen ausschließlich an Hochschulen ausgebildet. Hingegen ist in Deutschland ein Studium der Ergotherapie (das neben der Berufszulassung den Bachelorabschluss beinhaltet) aktuell lediglich auf der Grundlage einer Modellklausel im Berufsgesetz möglich. Obwohl diese Erprobungsphase bereits seit dem Jahr 2009 läuft und längst positive Evaluationsergebnisse vorliegen, wurde die Modellklausel verlängert, statt sie in den Regelbetrieb zu überführen. Insofern besteht durch weitere Verlängerung die Gefahr, dass das Ergotherapiestudium zum „Langzeiterprobungsmodell“ wird. Hierdurch wird Deutschland weiterhin im internationalen Vergleich abgehängt und der Mangel an wissenschaftlich ausgebildeten Ergotherapeut*innen, die eine ergotherapeutische evidenzbasierte und personenzentrierte Praxis sicherstellen, wird verstärkt.

Eine evidenzbasierte Praxis erfordert von den Berufsangehörigen das Verstehen und Bewerten von aktuellen Forschungsergebnissen, um auf deren Basis wissenschaftlich fundierte klinische Entscheidungen mit den Patient*innen zu treffen. Diese Kompetenz kann nur im Bachelorstudium erworben werden. Um bereits bestehende Erkenntnisse und Wirksamkeitsnachweise aus internationaler Forschung der Ergotherapie nutzen und daran anschließen zu können, wird in Deutschland dringend ergotherapeutische Forschung benötigt. Für den Aufbau ergotherapeutischer Forschung und die Sicherung der Versorgungsqualität in Deutschland bedarf es weiterführender wissenschaftlicher Qualifikationen für Ergotherapeut*innen.

Die Ergotherapie stellt die Anliegen von Menschen in unterschiedlichen Lebenslagen in den Mittelpunkt der Therapie. Von Seiten der Therapeut*innen erfordern diese personenzentrierten und evidenzbasierten Ansätze analytische, kritische und umfassende Denk- und Handlungsweisen, um den komplexen Bedürfnissen der Betroffenen und den Ressourcen des Gesundheitssystems gerecht zu werden. Dies sind Kompetenzen, die nur mit einer Qualifikation auf Hochschulniveau erworben werden können, die in Deutschland erst ca. 5% der Berufsgruppe haben. Jedoch können Lehre, Forschung und evidenzbasierte Praxis in der Ergotherapie nicht von einer solchen kleinen Gruppe allein weiterentwickelt werden. Es reicht nicht aus, nur einem kleinen Teil der Berufsangehörigen einen Zugang zu einer akademischen Qualifikation zu ermöglichen – sonst droht die Entwicklung der Ergotherapie in Deutschland in einer Sackgasse zu enden.
Anlässlich des diesjährigen Mottos des Welttages der Ergotherapie „Reimagine Doing“ fordern wir als Ergotherapieprofessor*innen die Entscheidungsträger auf den verschiedenen Ebenen dazu auf:

  • das geplante Vorgehen zur Neuordnung der Therapieberufe in Deutschland zur Priorität zu machen und zeitnah hinsichtlich der Akademisierung zu überdenken,
  • sich für eine primärqualifizierende hochschulische Qualifikation von allen Ergotherapeut*innen einzusetzen,
  • durch die regelhafte Akademisierung Voraussetzungen für den Aufbau ergotherapeutischer Forschung zu schaffen,
  • durch die Entscheidung für die Akademisierung aktiv daran mitzuwirken, dass die deutsche Ergotherapie international anschlussfähig wird,
  • mit einer regelhaften hochschulischen Qualifikation die Weiterentwicklung des Berufs zu ermöglichen,
  • den Beruf aus der nicht-akademischen Sackgasse herauszuholen, um so ein einheitliches Wissens- und Wertverständnis sowie eine wissenschaftlich-fundierte Qualifikation zu ermöglichen,

um so eine zeitgemäße, evidenzbasierte ergotherapeutische Gesundheitsversorgung zu Gunsten aller Patient*innen sicherzustellen.

  • Prof. (in Verw.) Jutta Berding, Hochschule Osnabrück (University of Applied Sciences)
  • Prof. Dr. Silke Dennhardt, Alice Salomon Hochschule Berlin (University of Applied Sciences)
  • Prof. Dr. Katharina Röse, Universität zu Lübeck (University of Luebeck)
  • Prof. Dr. Elke Kraus, Alice Salomon Hochschule Berlin (University of Applied Sciences)
  • Prof. Dr. Ulrike Marotzki, HAWK Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst Hildesheim/Holzminden/Göttingen (University of Applied Sciences and Arts)
  • Prof. Dr. Philipp Eschenbeck, Hochschule für Gesundheit Bochum (University of Applied Sciences)
  • Prof. Dr. Dr. Christian Postert, Hochschule für Gesundheit Bochum (University of Applied Sciences)
  • Prof. Dr. Renée Oltman, Hochschule für Gesundheit Bochum (University of Applied Sciences)

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